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Richard und Erika Arlt - Zwei Leben für die DDR

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Tröbitz Jüdischer VVN
Kurzbiographien der Opfer in alphab. Reihenfolge: Name, Vorname, Alter. Zum Ansehen bitte anklicken

Die Geschichte eines verschwundenen Grabes


Dr. Ladislaus Roth, der 1948 in Wien lebte, war durch seine Ehefrau Mariana, die Bergen-Belsen und den Verlorenen Transport überlebt hatte, über das Schicksal seiner Schwester Lilian Czukor-Roth (geb. 13.12.1913 in Debrecen* Ungarn , gest.17.5.1945, Tröbitz) gut informiert. Mariana hatte sich in Bergen-Belsen ebenfalls an Flecktyphus infiziert und war sehr wahrscheinlich in den letzten Tagen an Lilian Roths Seite. Nach deren Tod und Bestattung in Tröbitz hielt sie sich noch eine Weile in Doberlug auf. Vielleicht deshalb gelang es Dr. Roth, dort den Steinmetzbetrieb von Otto Koppe ausfindig zu machen, der bereit war, gegen Zahlung von 299,20 DM einen Grabstein nach seinen Vorgaben herzustellen und am Grab seiner Schwester aufzustellen. Koppe bestätigte den Zahlungseingang am 19.4.1950. Hier sein Schreiben:

Koppe an Roth


Er legte seinem Brief eine Skizze bei, wie der Grabstein aussehen sollte. Auf der Skizze trägt dieser zwar die falsche Inschrift 'Nicoles Czukor' - Nikolas (Miklas) war der Vorname des Mannes von Lilian Czukor-Roth - aber der 'nochmals wiederholte' Text in dem Brief stimmt. Dass Koppe den Grabstein auch aufstellte, zeigt dieses  Anfang der 60er Jahre entstandene Photo  aus dem Buch 'Niemals Vergessen' von Erika Arlt; vorne rechts steht eindeutig der Grabstein an dem Grab von Lilian Roth, Reihe 2, Nr. 7:

Grabstein Roth



Als Dr. Roth im Jahr 1989, 39 Jahre später, beabsichtigte, das Grab seiner Schwester zu besuchen, erkundigte er sich bei Firma Koppe, wo der Grabstein aufgestellt wurde und wie er das Grab seiner Schwester Lilian finden könnte. Herr Koppe lebte nicht mehr, der Brief landete bei der Gemeindevertretung in Tröbitz und dort konnte man nur feststellen, dass der Grabstein verschwunden war.

Gut, dass Dr. Roth seine Reise alters- (er war damals schon 84) und krankheitsbedingt nicht antreten konnte, er hätte sonst bemerken müssen, dass nicht nur der von ihm bezahlte Grabstein, sondern mittlerweile das ganze Grab seiner Schwester verschwunden war. Da das oben gezeigte Foto mit dem aufgestellten Grabstein zu Beginn der 1960er Jahre aufgenommen wurde, muss er im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Friedhofs verschwunden sein, als man an jedes Grab Namenskissen anbrachte und den Friedhof dann 1966 offiziell neu weihte. Auch elf weitere Gräber waren durch die konfuse Grabbeschriftung nicht mehr vorhanden. Für sie wurde auf Erika Arlts Drängen 1989 und als Folge des durch die Anfrage von Dr.Roth entdeckten Durcheinanders, zwei gesonderte Tafeln mit 12 Namen (und denen von 5 weiteren Opfern ohne Grabstelle) aufgestellt** - an der Stelle, wo sich seit 1995 die große Gedenkwand mit den Namen von  549 Opfern befindet:

JEF mit Namenstafeln

Wohin aber der Grabstein Lilian Roths von doch beachtlicher Größe und Gewicht verschwunden ist, konnte nie aufgeklärt werden. Hier zum Abschluss die aus der verblassten Skizze Otto Koppes rekonstruierte Grabsteinskizze von Lilian Roth:

Skizze Grabstein Roth



*Anmerkung zur jüdischen Gemeinde  Debrecen (aus der Internetseite www. jewishgen.org, übersetzt google-translate, bearbeitet v. RB):
Juden durften sich erst 1840 in Debrecen niederlassen und bis 1863 keine Immobilien kaufen.  Im 19. Jahrhundert wurde Debrecen zu einem der politischen, finanziellen und kulturellen Zentren Ostungarns. 1941 hatte Debrecen etwa 126.000 Einwohner, wobei 10% jüdisch waren.  Juden spielten eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben.  Juden dominierten unter den Gebildeten und besaßen etwa die Hälfte der Landgüter.  Die meisten Juden von Debrecen waren traditionell; die verschiedenen Teile der jüdischen Gemeinde blieben jedoch in einem harmonischen Verhältnis. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Debrecen Versuche antisemitischer Angriffe, vor allem von Studenten der neuen örtlichen Universität.  Die jüdische Jugend der Stadt wehrte sich mit beachtlichen Ergebnissen.  Zehn Jahre später, 1933, wurden diese Angriffe wieder aufgenommen, und obwohl die jüdische Jugend erneut versuchte zu reagieren, setzten sich die antisemitischen Angriffe fort und erhielten immer mehr offizielle Unterstützung. 1940-1942 wurden viele jüdische Männer in Arbeitsbataillone aufgenommen.  Im Herbst 1941 wurden Juden aus Polen aus der Stadt vertrieben, und viele wurden bei ihrer Ankunft in Kamenets-Podolski ermordet.  Nach der deutschen Besetzung 1944 wurde ein Ghetto errichtet und Ende Juni 1944 die Juden deportiert.  Ein Transport wurde nach Auschwitz geschickt, zwei weitere kamen in Strasshof an.  Kleinen Gruppen junger Menschen gelang es, der Deportation zu entgehen und nach Budapest zu flüchten, wo sie sich dem Widerstand anschlossen.  Einige der lokalen Zionisten retteten sich mit dem Zug des Befreiungskomitees (Kasztner) in die Schweiz.  Als die Deutschen versuchten, die österreichischen Lager beim Näherrücken der Roten Armee zu evakuieren, wurden viele Juden ermordet, aber die meisten überlebten. 1946 kehrten 4.640 Juden nach Debrecen zurück und waren damit die größte jüdische Gemeinde in der Gegend.  1970 waren jedoch nur noch 1.200 verblieben.

** Anmerkung zum ungarischen Arbeitsdienst, der auch Lilian Czukor Roths Mann Miklos zum Opfer gefallen ist (aus: Christian Gerlach Götz Aly, Das letzte Kapitel, Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944 / 1945, Stuttgart: dva, 2002, 485 S.):

Er basierte auf dem zweiten ungarischen Wehrgesetz vom März 1939, das ursprünglich die Gestellung einigermaßen gleichberechtigter, nicht bewaffneter Bausoldaten vorsah, die den nationalen Minderheiten angehörten, also nicht als zuverlässige Wehrbürger galten. Schon 1940 wurde der Arbeitsdienst im Zeichen der Krise zwischen Ungarn und Rumänien auf Männer ausgedehnt, die das Rekrutenalter längst überschritten hatten. Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion mußten jedoch die Angehörigen des Arbeitsdienstes ihre Uniformen ablegen, die Juden wurden zudem gezwungen, besondere Armbinden zu tragen – gelbe bezeichneten Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaften, weiße unterschieden davon die sogenannten Rassejuden, die zum Christentum konvertiert waren.

Im Jahr 1942 arbeiteten bereits 100.000 Männer in diesen Einheiten, mehr als 50.000 in den von ungarischen Truppen besetzten Gebieten der Sowjetunion. Nach der verheerenden Niederlage der ungarischen Truppen am Don gelang von 200.000 ungarischen Soldaten nur 60.000 bis 70.000 der Rückzug, von den jüdischen Bausoldaten des Arbeitsdienstes konnten sich nur wenige retten. Frühere Schätzungen gingen von etwa 40.000 Opfern unter den jü dischen Bausoldaten aus; heute wird angenommen, daß etwa 15.000 starben und 10.000 weitere in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Den Hintergrund für den extrem hohen Anteil an Toten in diesem jüdischen Teil der Armee bildet ein scharfer antisemitischer Geist im ungarischen Feldheer.Wie man sich das vorstellen muß, läßt sich in den Erinnerungen von Ephraim Kishon nachlesen. Wegen seines »arischen« Aussehens war der Autor nach Beginn des Krieges von der Schulbank weg zu einer paramilitärischen Ausbildung eingezogen worden. Neben den üblichen Obszönitäten einer militärischen Grundausbildung fiel ihm eines auf: »In dem Gebrüll kam jedoch meist in der einen oder anderen Form das Schimpfwort ›Jude‹ vor. ›Renn nicht rum wie ein jüdischer Affe‹ hieß es da, oder ›Leute, ihr marschiert wie die jüdischen Lahmärsche mit ihren krummen Beinen‹.« Kishon nennt »nur die milderen Formulierungen«. Nachdem er als »Wehrunwürdiger« entdeckt worden war, hatte er die Kaserne zu verlassen: »Der Feldwebel am Tor fegte mir die Mütze vom Kopf, und ich wurde wieder zur Judensau.« Zum ersten Mal, so schreibt er abschließend über diesen »traumatischen und aufschlußreichen« Einblick, habe er hören können, »wie Ungarn, wenn sie unter sich sind, über Juden reden«. Ein solches Grundklima bedeutete für die im Arbeitsdienst zusammengefaßten Juden an der Ostfront eine tägliche Katastrophe. Viele ungarische Offiziere und Soldaten ließen ihre sadistischen Neigungen an den Wehrlosen aus, manche schreckten vor Erschießungen nicht zurück. In einzelnen Fällen mußten die nur mit Sommerkleidung ausgerüsteten jüdischen Hilfstruppen mit bloßen Händen nach Minen suchen, in anderen, unbewaffnet an der vordersten Front, im Feuer der sowjetischen Truppen Nachschub-, Schanz- und Pionierarbeiten verrichten.

*** Die beiden Namenstafeln befinden sich heute (2021) in der kleinen Ausstellung im Erdgeschoss der evangelischen Schule in Tröbitz.